Etwa 45 Spielerinnen und Spieler stehen in farbenfrohen Gewändern und Zwangswesten auf dem schwarzen Bühnenboden. Draußen warten bereits die vorfreudigen Familien, Freund:innen und Kolleg:innen in einer langen Schlange darauf, endlich eingelassen zu werden.
Die Schülerinnen und Schüler schließen die Augen und stellen sich vor, sie befinden sich in London, Ende des 19. Jahrhunderts. Keine Autos fahren über die Pflastersteine, stattdessen flanieren Menschen in schicken Kleidern und Frack zwischen den Pferdekutschen. Am Straßenrand flackert eine Gaslaterne. Gemeinsam atmen die Schüler:innen ein und aus, kauen transsilvanische Schnitzel und werfen der imaginären Köchin Dankes-Küsschen zu, um die Kiefermuskulatur für die anstehende knapp zweistündige Aufführung zu lockern. Dann folgt ein chorisches Crescendo des gemeinsamen Mantras „Wir sind irre“, bevor es schließlich losgehen kann. Als die Zuschauenden endlich die Aula betreten und sich auf ihre Plätze begeben dürfen, sind die Spielerinnen und Spieler der Unterstufen-AG bereits auf der Bühne und es entsteht ein beeindruckendes und schauriges Tableau, untermalt mit düsterer Musik und unheimlichen Lichteffekten, welches das Publikum direkt in die Irrenanstalt entführt, in der Renfield einsitzt.
Stefanie Albrechts Inszenierung begleitet Jonathan Harker (Richard Jablonowski) auf seiner Reise nach Transsilvanien zum Grafen Dracula (Philipp Munziger-Aguilar), auf dessen Schloss er von drei gefährlich schönen Vampirinnen (Alia Stille, Liv Gork, Sara Sohani/Carolin Schöffel) gefangen gehalten wird. Fürst Vlad hingegen begibt sich auf den Weg nach London, um dort Mina (Elisabeth Kollatz), die Reinkarnation seiner geliebten Ehefrau Elisabeta, zu finden. Nachdem er Minas beste Freundin Lucy (Carolin Schöffel) von seinem Blut hat kosten lassen und sie sich anschließend zur Vampirin wandelt, wird Dracula von dem Männertrupp um Minas Verlobten Jonathan, Lucys Verlobten Lord Holmwood (Justus Schmidt), dem „Nervendoktor“ Jack Seward (Erik Hansen), dem Texaner Quincey (Greta Hauck) und allen voran natürlich Dr. Abraham van Helsing (Sara Sohani), verfolgt und sein Sarg in einer eindrucksvollen von Heavy Metal Musik und Stroboskoplicht untermalten Szene mit Äxten zerlegt. Am Ende ist es jedoch Mina, die ihren Prinzen in seiner geliebten Heimat von seinen Qualen erlöst und ihm einen Pfahl durchs Herz stößt. Denn ihre Liebe ist stärker als der Tod.
Das Stück gleicht einem bunten Gemälde, welches dem Publikum verschiedene Handlungsstätten und Handlungsstränge präsentiert. Von der Nervenanstalt, in welchem Renfield eingesperrt ist, über den Salon von Mrs. Westenra bis hin zum Schloss des Grafen und seiner Vampirinnen; vom Schreibtisch, an dem Jonathan seine Briefe verfasst bis zum düsteren Anwesen Carfax, in welchem Draculas Sarg entladen wird; von London bis Transsilvanien: Stefanie Albrechts Inszenierung ist so vielschichtig, dass man als Zuschauender das Stück mehrfach sehen möchte, um sich bei jeder Aufführung auf andere Rollen und Bühnenbereiche konzentrieren und die vielen liebevoll dargebotenen Details entdecken zu können. So sieht der aufmerksame Gast zum Beispiel, wie Stella von Fournier als Mr. Renfield die Emotionen des Grafen Dracula miterlebt und wie Felicia Welter als zweiter Jonathan Harker die Gefühle des ersten Jonathan spiegelt und durchgehend im Hintergrund seine Erlebnisse in seinem Tagebuch notiert.
Die hochwertigen und stilistisch ins 19. Jahrhundert passenden Kostüme aus dem Fundus des Stadttheaters Heidelberg und dem Mannheimer Kostümverleih sowie die aufwendige Licht- und Tontechnik der Technik-AG (federführend ist hier Jared Schönfeld zu nennen) vollenden die geniale Inszenierung von Stefanie Albrecht. Herr Englert fragte sich nach der Premiere zurecht, ob er ein Schultheaterstück oder eine professionelle Theateraufführung gesehen hat.
Nach drei ausverkauften und gelungenen Aufführungen, die am letzten Abend verdient, mit Standing Ovations belohnt wurden, bleibt am Ende nur die kritische Frage:
„Eine gute Stellung in der Gesellschaft, Kinder und Enkel. Was willst du mehr?“
Text: Sarah Hornung
Bilder: Dr. Thomas Löffler